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Volkswirtschaft: Die alten Regeln sind außer Kraft

Jahrzehntelang wurden an den VWL-Lehrstühlen feste Grundsätze gelehrt: Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, steigen die Löhne. Oder: Wenn die Zinsen sinken, steigen die Investitionen. Zudem waren Minuszinsen lange nur ein theoretisches Gedankenspiel. Doch die Zeiten haben sich geändert, die alten Regeln sind anno 2019 außer Kraft. Welche Folgen das für die Wirtschaft und die Geldanlage hat, erklärte Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ-Bank, auf Einladung der Braunschweiger Privatbank vor rund 200 Gästen im Steigenberger Hotel.

Stefan Bielmeier und Stefan Riecher
Stefan Bielmeier (l.), Chefvolkswirt der DZ-Bank und Stefan Riecher (r.), Direktor der Braunschweiger Privatbank // Foto: Lukas große Klönne

Stefan Bielmeier über…

… die wirtschaftliche Situation in Deutschland

  • Deutschland ist in diesem Jahr knapp an einer Rezension vorbeigeschrammt. Das Wachstum liegt unter einem Prozent. Auch im Jahr 2020 wird es voraussichtlich ca. 1 Prozent betragen.
  • Während die Bereiche Bauwirtschaft und Dienstleistungen wachsen und der private Konsum sowie der Servicesektor recht stabil sind, verzeichnet die Industrie, allen voran der Maschinenbau, einen Auftragsrückgang. Ein wesentlicher Grund dafür sind die Auswirkungen des Handels- und Zollstreits zwischen den USA und China.
  • Die Inflationsrate liegt hierzulande nach wie vor deutlich unter dem Ziel der Zentralbank von 2 Prozent. Stützen der Inflation sind vor allem steigende Mieten und steigende Energiekosten, während alle anderen Kosten relativ konstant bleiben. Eine Steigerung der Inflation ist gegenwärtig nicht abzusehen.
  • Dank der geringen Inflation führen steigende Einkünfte zu einem realen Kaufkraftgewinn, vor allem für Immobilienbesitzer, die keine Mieten zahlen.
  • Nullzinsen bzw. negative Zinsen bedeuten eine massive Umverteilung vom Sparer zum Staat. Die „Schwarze Null“ ist in Deutschland nur wegen der niedrigen Zinsen und der gegenwärtig hohen Steuereinnahmen möglich.

… die wirtschaftliche Situation in Europa

  • Deutschland und Italien bilden in Europa das Wachstumsschlusslicht, während die Wirtschaft in Frankreich relativ stark zunimmt. Selbst Großbritannien ist trotz der Wirrungen rund um den Brexit stärker gewachsen als Deutschland.
  • Der Brexit wird für die Wirtschaft in Europa spürbare Auswirkungen haben, ist mittelfristig aber zu verkraften.
  • Der Europäischen Zentralbank (EZB) gehen die Mittel aus, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln: Die Anleihenkäufe haben praktisch keinen Effekt mehr auf die Realwirtschaft und es ist zudem kaum noch möglich, die Zinsen weiter zu senken.
  • Die Zinsen spielen für die Unternehmen bei ihren Investitionsentscheidungen nur noch eine untergeordnete Rolle, weil sie sich an das gegenwärtige Zins- und Inflationsniveau gewöhnt haben und davon ausgehen, dass es auf absehbare Zeit so bleibt.
  • Immobilien bleiben für Investoren aufgrund der niedrigen Zinsen attraktiv. In den Top-Lagen sind die Immobilienpreise mittlerweile auf einem sehr hohen Niveau, sodass die Nachfrage nach den B-Lagen spürbar zunimmt.

… die wirtschaftliche Situation in der Welt

  • Global beträgt das Wachstum knapp 3 Prozent. Während es in der Euro-Zone bei rund 1 Prozent liegt, sind es in Asien leicht über 5 Prozent. Hier ist vor allem China mit einem Plus von 6 Prozent der Treiber, doch auch deren Wachstum verlangsamt sich.
  • Je größer der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung, desto größer die Auswirkungen der globalen Handelsstreitigkeiten für die einzelnen Länder.
  • Die Welt ist aufgrund nationalistischer Tendenzen in vielen Regierungen und entsprechend weniger multinationaler Lösungen weniger wachstumsfreundlich als früher.
  • Die Entscheidungen von US-Präsident Donald Trump sind aufgrund seines erratischen Verhaltens kaum zu prognostizieren. Für den Handelsstreit zwischen USA und China gibt es zwei Szenarien: a) Trump schafft die Zölle ab, was temporär zu einem Kursfeuerwerk an den Aktienmärkten führen würde. b) Trump entscheidet sich für eine Erhöhung der Zölle, was eine weltweite Krise auslösen und das Wachstum weiter verlangsamen würde.
  • Von der nächsten US-Wahl hängt für die Welt viel ab. Angesichts der stabilen Wirtschaft und geringen Arbeitslosigkeit in den USA deuten die Zeichen auf eine Wiederwahl Trumps.
  • Die Inflation ist weiterhin ungewöhnlich niedrig. Solange das so bleibt, werden auch die Zinsen nicht steigen. Das ist ein Problem für die Finanzmärkte, da die Banken mit dem Verleih von Geld kaum noch etwas verdienen. Das führt zu massiven Veränderungen am Bankenmarkt.
  • Die weltweite Verschuldung beträgt 53 Prozent des BIPs. Die massive Zunahme der Schulden wird für die einzelnen Länder jedoch erst zum Problem, wenn die Zinsen wieder steigen.
  • Negative Renditen sind ein globales Phänomen und werden zur Normalität. Es betrifft mittlerweile ca. 30 Prozent aller Anleihen.
  • Aufgrund der insgesamt geringen Arbeitslosigkeit in vielen Ländern wie den USA, China, Japan, Großbritannien und Deutschland müssten die Löhne und die Inflation laut gängiger VWL-Theorie eigentlich steigen. Das tun sie aber nicht. Mögliche strukturelle Gründe sind die zunehmende Digitalisierung und die Demographie.

… über Geldanlage in Zeiten von Minuszinsen

Laut Bielmeier führt bei der Geldanlage nach wie vor kein Weg an Aktien vorbei. Beispielsweise ist der DAX-Kurs in diesem Jahr um rund 25 Prozent gestiegen, obwohl die Gewinne der Konzerne gesunken sind. Die Investoren wissen schlichtweg nicht, wie sie ihr Geld anderweitig anlegen sollen. Etablierte Anlageformen wie Staatsanleihen, Festgeld, Rentenpapiere, Private Equity oder Gold sind entweder nicht mehr lukrativ oder bergen ein zu hohes Risiko. An der Börse lässt sich dank der Dividenden noch eine Rendite erzielen, selbst wenn die Kurse keine großen Sprünge machen.

Regelmäßig neue Berichte und Einschätzungen von Stefan Bielmeier finden Sie auf Bielmeiers Blog.