Haus, Rakete, Mond
Exklusive Führung durch die Ausstellung Leandro Erlich im Kunstmuseum Wolfsburg

Ein Donnerstagabend in Wolfsburg. Buntes Herbstlaub weht durch die Straßen und über den Hollerplatz am Nordkopf. Direkt hier steht das 1994 eröffnete Kunstmuseum. Eine prägnante, imposante und transparente Stadtloggia mit einem weit überspannenden Glasdach. In zwei Jahrzehnten wurden hier über 130 Ausstellungen der modernen und zeitgenössischen Kunst realisiert – die neueste trägt den Titel Schwerelos und wurde vom argentinischen Künstler Leandro Erlich konzipiert. Rund dreißig Gäste der Braunschweiger Privatbank hatten sich Mitte Oktober eingefunden, um dessen Werke, die oftmals die Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären, dem Vertrauten und dem Fremden überschreiten, – und besondere Sinneserlebnisse hervorrufen – zu erleben. „Wir würden uns freuen, wenn Sie ihren Alltag und das unruhige Weltgeschehen in den nächsten Stunden vergessen könnten, und sich einfach schwerelos fühlen. Das Kunstmuseum gehört ihnen“, begrüßten Maik Blum, Direktor Wealth Management bei der Braunschweiger Privatbank, und Claudia Kayser, Leiterin der Direktion Wolfsburg bei der Volksbank BRAWO, die Anwesenden im Foyer zu einer exklusiven Führung.
Klassizistisches Bürgerhaus unter der Hallendecke
Aufgeteilt in zwei Gruppen und begleitet von Museumsführern, ging es direkt in die Dunkelheit: In die quadratische, 40 Meter lange und 16 Meter hohe, zweigeschossige Halle mit rund 2.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Der erste Eindruck: Da hängt ein Haus von der Decke, der Mond liegt auf der Erde, eine Rakete steht im Raum und mehrere Wolken schweben eingesperrt in Glaskästen herum.
Die Installationen dieser Schau verführen auf den ersten Blick zum Staunen, auf den zweiten sollen sie die Betrachtenden zu einer anregenden Reise einladen, sich mit den Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technologie, Ökologie, Raumfahrt, globaler Erwärmung oder Migration zu befassen. Leandro Erlichs Skulptur Pulled by the Roots, die detailgetreue Imitation eines klassizistischen Bürgerhauses aus dem 18. Jahrhundert, aus dem riesige Wurzeln wuchern und dass in luftiger Höhe zu schweben scheint, ist auf jeden Fall einer der beeindruckendsten Hingucker. Sogar das Mobiliar und andere Gegenstände im Inneren des Hauses, dass auch aus einem Gothic-Horror-Film entsprungen sein könnte, scheinen der Gravitation zu trotzen.
Die mehrere Tonnen schwere Skulptur soll darauf verweisen, wie eng die menschliche Kultur und die Natur miteinander verwoben sind. Zudem soll sie auch als Allegorie der Heimat bzw. Heimatlosigkeit an die Millionen Menschen, die aufgrund von Kriegen, politischer Konflikte, unzumutbarer Lebensumstände oder der sich zuspitzenden Klimakatastrophe vertrieben und entwurzelt werden, wirken. Können diese Menschen irgendwann wieder Wurzeln schlagen und sich in einer neuen Heimat zu verorten?


Umkehrung von Sichtweisen
Ebenfalls über den Köpfen der Besucher schwebend, zeigt Leandro Erlich unter der gesamten Decke des Kunstmuseum Wolfsburg mit der Installation Soprattutto ein digital erstelltes „Landschaftsporträt“. Aus der Ferne betrachtet, offenbart sich auf der Erdoberfläche eine komplexe Komposition aus unterschiedlichen Formen: Flächen, Linien, Strukturen und Texturen in farblich abgestuften Grün- und Brauntönen. Eine landschaftliche Geometrie, die über Jahrzehnte durch Besiedlung und Landwirtschaft anhand von Straßen, Feldern und Gebäuden geschaffen wurde. Nur gucken wir hier nicht (z.B. aus dem Flugzeug) von oben nach unten, sondern vom Boden an die Decke. Eine Umkehrung der Sichtweise. Gewohnte Perspektiven werden vom Künstler auch hier herausgefordert und ad absurdum geführt.
Der Mond ist untergegangen
Das gilt auch für den Mond, den der Künstler zu uns auf den Boden gebracht hat. Der sonst weit entfernt am Firmament leuchtende Erdtrabanten wird für die Besucher erfahr- und greifbar gemacht. Die begehbare Installation Moon ist angelehnt an das Setting eines Planetariums. Im Inneren des Mondes befindet sich eine Kuppel, auf deren gesamter Innenfläche eine Videoanimation nächtlicher Satellitenaufnahmen von Netzwerken aus Städten und Straßen zu sehen sind. Die Aufnahmen verdeutlichen die vielschichtigen Verflechtungen zwischen dem Weltraum, den Sternenkonstellationen und unserer Erde. Begleitet wird die intensiv zu spürende Installation von atmosphärischen Klängen, die das immersive Erlebnis im Zentrum des Mondes intensivieren. Zudem kann man über ein Treppenhaus auf die Oberfläche von Moon steigen und aus dieser ungewohnten Perspektive die gesamte Ausstellung überblicken.

Die Schwerkraft der Erde überwinden
Besondere Einblicke bietet auch ein thematisch nahes, eigens für die Ausstellung geschaffenes Raumschiff: Circa 14 Meter hoch, begehbar und täuschend echt wirkend fühlt man sich zuweilen an das Science-Fiction-Epos „2001: Odyssee im Weltraum“ erinnert. Die Schwerkraft der Erde überwinden und für einen kurzen Moment wie ein Astronaut im Weltall schweben, scheint möglich. Wie in vielen seiner Installationen erzeugt Erlich mit seiner Arbeit Spaceship einen illusionistischen Erfahrungsraum, der gemeinsam erlebbar ist und zur Reflexion über politische, soziale und ökologische Aspekte im Zusammengang mit der Raumfahrt anregen soll. Wie zuvor Moon wurde auch Spaceship von den Gästen der Braunschweiger Privatbank angeregt erkundet und sorgte für viel positive Interaktion und Verblüffung.

Ephemere Wolken
Nicht ganz so spektakulär wie die drei überdimensionalen Staun-Installationen, aber dennoch thematisch verbindend, präsentiert Leandro Erlich seine mehrteilige Arbeit The Cloud. Hier wurde anscheinend und augenscheinlich das Unmögliche überwunden: Ephemere Wolken wurden von ihm in vier Vitrinen eingefangen. Aber wie das möglich ist? Wie bleibt das flüchtige in stetiger Form?
Die Antwort: Pro Vitrine sind neun bedruckte und hintereinander geschichtete Glasscheiben mit einem fast poetisch anmutenden Wolkenbild positioniert, dass dadurch an faszinierender Plastizität gewinnt. Erlich bezeichnet Wolken als „Skulpturen aus Wasserdampf und Wind“, die im Kopf der Menschen entstehen. Zu träumen, zu fantasieren, zu erfinden und zu erzählen, stellt für ihn eine tief verwurzelte menschliche Fähigkeit des Geistes dar. Denn bei näherer Betrachtung lassen Leandro Erlichs Wolken einen Fisch, eine Ente, den Umriss von Südamerika sowie einen Pfeil erkennbar werden. Oder vielleicht auch etwas völlig anderes.

Surreal anmutende Klein-Skulpturen
Abgerundet und ergänzt wird die Ausstellung durch einige besondere bildhauerische Klein-Kunstwerke aus Materialien wie Bronze, Glas, Keramik und Marmor.
In beleuchteten Schaukästen befinden sich beispielsweise ein winziges Haus, das in einem Kohlkopf Unterschlupf findet; ein Schmetterling mit menschlichen Ohren statt Flügeln sowie eine Schnecke, deren Fühler durch zwei Finger ersetzt wurden und deren Schneckengehäuse die äußere Erscheinung eines Gehirns angenommen hat. Die mehrteilige Werkgruppe Hybrid Nature präsentiert edel wirkende und surreal anmutende Skulpturen, die menschliche, tierische, pflanzliche, aber auch architektonische Merkmale vereinen. Eine kleine Horror-Mini-Show, die den Blick für die evolutionären Prozesse der Erdgeschichte richten und u.a. existenzielle Fragen nach der Entwicklung des Menschen aufwerfen soll. Der künstlerische Ansatz von Leandro Erlich ist hierbei spekulativ und in die Zukunft gerichtet: In welcher Form werden menschliche und nicht-menschliche Wesen künftig zusammenleben? Lassen sich die Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen verschieben oder gar auflösen?
Mit der visuellen Verschmelzung jener Grenzen verweist Leandro Erlich auf die komplexe Beziehung der Menschen zur Natur und versinnbildlicht das Potenzial des gemeinschaftlichen Wandels und Zusammenlebens. Schwerelos, die erste monografische Ausstellung des Künstlers in Deutschland, offenbart sich zugleich abgehoben, wie auch bodenständig. Spektakulär und zuweilen irritierend, aber auch spielerisch und humorvoll. Sie will einen vielseitigen Erfahrungsraum schaffen, indem sie die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen visuell erforscht und eine so unkonventionelle wie ungewöhnliche Perspektive auf wichtige Fragen bietet, die unsere Welt heute beschäftigen und prägen.
Zu einem angeregten Austausch bei hervorragenden Essen und Getränken kam es anschließend mit allen Beteiligten im Restaurant Oberdeck. Das Kunstmuseum Wolfsburg war eine Reise wert, die die meisten Gäste der Braunschweiger Privatbank sicher nicht so schnell vergessen werden.

